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Die Psychologie der Politik [Vermutlich Berlin]
  • © Berlinische Galerie, Berlin / VG Wort, München
  • Repro: Anja Elisabeth Witte
    • Raoul Hausmann (1886 - 1971)

  • TitleDie Psychologie der Politik [Vermutlich Berlin]
  • Date[nach 1924]
  • CategoryManuskripte
  • ClassificationTyposkript
  • MaterialPapier, maschinengeschrieben
  • Amount6 Blatt
  • FondsTeilnachlass Raoul Hausmann
  • Inventory NumberBG-RHA 1339
  • CreditlineErworben aus Mitteln der Senatsverwaltung für Kulturelle Angelegenheiten, Berlin, und Spendenmitteln, 1991
  • Terms3.2.3 Texte des Nachlassers, Deutschland / Berlin, Typoskript, Nachlass Raoul Hausmann, Texte von Raoul Hausmann
  • On DisplayNo
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»Raoul Hausmann 1924

Die Psychologie der Politik

In dieser Welt der unbeherrschbaren Materie unterliegt der Mensch auch heute noch dem horror vacui, der Raum-Zeit-Angst, die alles übertönt: Hunger, Macht; die Ueberwertung der Persönlichkeit in den Auswirkungen der Concurrenz und der Zielsetzung auf allen ideellen und praktischen Gebieten. Gerade die Raum-Zeit-Angst ist es, die ein Ziel als Halt im sonst Grenzenlosen fordert, und sei dies Ziel ein metaphysisches, wie das Ideal Platon's oder Kant's Ding an sich - es soll, wenn auch unerreichbar, hinweghelfen über das Nicht-Wissen. Sich herauszusondern aus dem gleichmässigen Ablauf der Zeit erfand der Mensch die „Persönlichkeit" und die Concurrenz, Anzeichen seiner psycho-physischen Schwäche und Mittelpunktslosigkeit. Im Verlauf einer Civilisatorischen Entartung Europas wurde die christlich-bürgerliche Moral zu einer so starken Gesellschaftshemmung, dass die Wissenschaft der Psychoanalyse als einziges Allheilmittel dagegen erfunden werden musste. Die Psychoanalyse kann sich nur rühmen, den unwichtigsten Teil des socialen und psychophysiologischen Geschehens in gewaltsamen Construktionen recht kläglich beleuchtet zu haben. Jeder Asiate würde ihr mit Fug entgegnen: „Du gleichst dem Geist, den Du begreifst, nicht mir." - Der biocönotisch gut funktionierende Mensch muss, um „eingeordnet" zu sein, verdrängen - nicht auf das was, nur auf das wie der Verdrängung kommt es an. Die ganze Psychoanalyse ist schief, weil etwa auf China mit seiner Ahnenautoritätsfamilie (biologisch gesehen als Einordnungsreihen) nicht anwendbar, nur auf die bürgerliche männliche Minderwertigkeitsfamilie bezüglich, die aber biologisch schon falsch ist.
Das Rätsel der „ach, zwei Seelen in des Menschen Brust" hat man von jeher gekannt. Es ist an der Zeit den Psychoanalytikern zu sagen, dass es nicht mehr viel zu enträtseln gibt, dass die ewige Analysiererei nicht Neues ergibt und dass sie ihre ganze Wissenschaft nur dem Verschwinden des Christentums, also einer biosociologischen Erscheinung zu verdanken haben. Das Herumanalysieren in Libido, die garnicht der Hauptantrieb des Lebens ist, ist schlechterer Religionsersatz und besserer Altweiberklatsch. Alle Werke der letzten Zeit sind, soweit sie Psychoanalyse oder deren Auswertung (wie etwa bei Kretschmar) betreffen, abwegig. Das Gefasle von der Beseitigung der Hemmungen und der Festlegung eines seelischen Charakters auf den Körperaugenschein hilft Keinem: Es gibt keine Typen der Art, wie sie von den Psychoanalytikern aufgestellt werden, - alle Vorgänge der menschlichen Psychophysis haben ausnahmslos die gleichen Ursachen und verlaufen mechanisch, ohne vom bewussten Willen wesentlich geändert werden zu können. Die Typen der Psychoanalytiker sind so falsch, wie die Einteilung bei den Alten in Temperamente". Jedenfalls schliesst sich die Psychoanalyse selbst als Heilweg aus, denn gegen Typen ist kein Kraut gewachsen - oder sie wird von der neueren Lehre der Geopsychischen Beeinflussungen und der neueren biologischen Erkenntnisse aufgehoben. Stets wird der Wille durch das Unterbewusstsein zum „Verdrängen" geführt, schweift also vom gesetzten Ziel ab. Das Unterbewusste ist stärker mit der Physiologie verbunden, denn es stellt gewissermaassen die biogenetische Grundleitlinie, die im intrauterinen Zustand im Mutterleib gebildet wird, dar. Der Wille und das Oberbewusstsein stellen nur das „musikalische Vorzeichen" vor, schweben als Schein-Charakter über der biogenetischen Mechanik, die intrauterin das Wissen des Solarplexus und des Sympathicus mit der Biogenese verbindet und deren durch Empirieergebnisse des Oberbewusstseins noch weiter getrübte Spiegelung im Gehirn als individuelle Verkrampfung oder Auflösung eines keineswegs „a priorischen ego" sich darstellt; die sich stets durchsetzt und durch die Diskrepanz mit dem „Ziel" die Minderwertigkeitsneurose ergibt. Coueismus, Autosuggestion usw. sind trotz des gegenteiligen Anscheines nicht Befähigung zur „Zielerreichung". Wir müssen aber die durch Individualanalyse gewonnene Einsicht erweitern zu einer Bio-Sociologischen Erkenntnis der Psychomechanik. Stets wird sich das Individuum aus der Genesis der Familie die Leitlinien für die Ueberkompensation von Machtwille, Angst, Hunger und ihrer Specialisierung in der Sexualität zum analogen Mechanismus in der Gesellschaft herholen. Sociologisch gesehen, entspricht dem Unterbewussten, der Leitlinie des Einzelnen, bei den Völkern das Milieu, die rechtlichen, politischen und ökonomischen Verhältnisse, der Rolle des Willens des Einzelnen entspricht der Klassenkampf. Die „Revolution" ist also nicht etwas Gewolltes, sondern als etwas biologisch notwendig Entstehendes zu betrachten. Nicht das „Klassenbewusste Proletariat" macht die Revolu-tion - hier wird nichts gemacht, ausser kapitalistischen Dummheiten, die unabwendbar im System liegen - und aus biopolaren Gründen „treibt" dies das Proletariat zur Revolution. Die Natur selbst, nicht der so oft gerühmte Wille des Menschen treibt als unterbewusste Leitströmung ein falsches Obergebäude, hier den Kapitalismus, zum Tode, er mag sich wehren, wie er will. Und die Natur zwingt den Menschen (hier Proletarier, aber auch die „Deklassierten") sich auf die Seite des Lebens, also des neuen, biocönotisch wichtigeren, relativ und praktisch richtigeren, zukünftigeren Teil des Lebens zu retten und mit dem Mittel der Anarchie und des revolutionären Klassenkampfs die Regulierung zu vollziehen.
Wie steht es aber um den Klassenkampf? In seinem Buche: „Wohin treibt England?" sagt Trotzky selbst, dass vom klassenbewussten Proletariat in dem Augenblick nichts zu erwarten ist, als der Kapitalismus Schlauheit genug besitzt, um eine Arbeiteraristokratie aufkommen zu lassen. Nichts beweist besser die Sucht des Menschen, sich treiben zu lassen, als diese Aeusserung Trotzkys. Zwar will der Kapitalist genau so über den Arbeiter siegen, wie dieser ohne ihn, aber beide lassen sich von Zeit zu Zeit „treiben", werden des bewussten Oberflächenwillens müde - gerade weil die biogenetische Leitlinie stärker ist und stärker sein muss, als der Wille zum politischen Siege. Und hier zeigt sich ein metaphysisches Element: die Natur im Menschen ist in ihren Aeusserungen genau so widerspruchsvoll-zwiespältig, aus Leben und Sterben entstehend zu denken, wie die biogenetische Leitlinie und der Klassenkampfwille direkt aufeinander bezüglich, - sodass dieser Kampf des Menschen um die beste Form seiner Einordnung in die „Natur" zu seinem fortwährend sich wandelnden „Ideal" wird - wie ja auch der marxistische Materialist das Ideal nicht nur des absoluten Rechts und des „freien Menschen" besitzt, obzwar er über die Ideale spottet. Aber er meint natürlich nur die abgebrauchten, unzeitgemässen Ideale, so wie er über die Religionen spottet, aber doch eine „Religion des Kommunismus" nicht strikte ablehnt. Der Satz von Engels: das Recht kann nie höher sein als die ihm zugrunde liegenden ökonomischen Umstände - ist ein idealistischer, metaphysischer Satz, mag er noch so materialistisch gemeint sein und, scheinbar, auch klingen. Ohne „Ideal" wäre, rein psychobiologisch, dem Menschen das Forschen nach dem Sinn des Lebens, sowie nach den ökonomisch, rechtlich und technisch besten Lebensumständen ganz unmöglich - das „Ideal" braucht der Mensch stets und das Forschen nach dem Sinn und Wert des Lebens ist der Inhalt des Lebens so sicher, wie der Mensch nje hinter diesen Sinn und Wert kommen wird - er bleibt da so blind, wie die Marxisten beispielsweise, die ihr Ideal Materialismus getauft haben, ohne die Metaphysik, das Psychomechanische, das Trickhafte, das Durchleben und Erleben bis zum „Ziel" für den Willen verdecken und erleichtern soll, zu bemerken. Und so ist etwa Trotzky ein sehr kluger Mensch, der zwar den Baldwin, Chamberlains, Briands, Luthers und Stresemanns weit überlegen ist, aber doch, ganz logisch ein „Getriebener" bleibt - um politisch wirksam sein zu können. Das ganze Wissen macht entweder tatenlos - oder es muss wieder vergessen werden, es muss wieder psychomechanisch überwuchert werden, um dem historischen Augenblick sich einfügen zu können. Trotzky ficht als Intellektueller für das „Recht" des Proletariats - er tritt als sein Anwalt auf und verlacht z.B. die Fabier, die „Mitleid" mit dem Arbeiter hätten. Der psychomechanische Verdunkelungstrick, dem er dabei unterliegt, ist notwendig, weil er sonst sagen müsste, dass er nicht Mitleid mit dem Proletariat, sondern die Macht über das Proletariat braucht, dass er das Proletariat zu dessen Vorteil zwingen will. Das Buch „Wohin treibt England" hat Trotzky zeitweilig seine politische Stellung gekostet - denn jeder aufmerksame Leser muss merken, dass hier ein Mensch Gedanken äussert, die mit der üblichen marxistischen Materialistenphraseologie nicht übereinstimmen, ja dass in ihnen eine geradezu metaphysische Lücke klafft. Trotzky aber ist nicht der Mann, um in diese metaphysische Lücke zu springen, er muss augenblicklich wirken - und so gab er klein bei. Dennoch ergibt sich gerade aus dem Unausgesprochenen seines Buches das Unwahre des autoritativen Marxismus, der gern absolute Geltung haben möchte, aber lieber an seinen Vergleich von den Revolutionen als Lokomotiven der Weltrevolution denken sollte - was nun, wenn es Flugzeuge oder Radiotechnik wäre? Wahrheiten sind zwar ewig - aber ihre Formulierung und ihre Be¬gründung ist historisch wandelbar. Der up-to-date-Standpunkt der russischen Marxisten ist (psychomechanisch und psychogenetisch notwendiger) Selbstbetrug. Selbstbetrug, wie ihn der Astrophysiker, der Mediziner, der Chemiker, der Mensch jeder Lebensform begeht, wenn er glaubt, die Existenz des Menschen auf der Erde auch nur annähernd erklären zu können - erklärbar sind nur Abläufe des Lebens in historischer (damit falscher) Perspektive, nie aber das Leben selbst. Und der „exakte, nüchterne Materialist", der anderes glaubt, ist ein Narr und wüster Metaphysiker, genau so wie der Nihilist, der sich nicht im Moment der gefassten Ueberzeugung, dass es keinen Sinn und Wert des Lebens gibt, tötet und alles Leben mittötet. Wissen aber müsste man heute aus der Psychogenesis und Psychomechanik, dass zwar die Wahrheit existiert, aber, um zur Wirkung zu kommen, stets in einer Uebersteigerung, jedenfalls in einer einseitigen Formulierung auftreten muss: D I E Wahrheit, das ist das Nichttun. Von dieser Gummiartigen Losgelöstheit ahnten vielleicht Laotse, Buddho und Christus etwas - aber der heutige, historische Mensch ist von ihr weit entfernt, ihm fehlt jede Fähigkeit dazu und die Vaihingersche „Als-Ob-Philosophie" bleibt der Undiscipliniertheit des tatsächlichen Lebens der Völker gegenüber ein Spässchen, wie etwa die innerliche Freiheit eines „Christenmenschen".
Was soll man also tun? Man soll nie die Wahrheit, die abstrakte Wahrheit an sich wollen, sondern man muss stets die Anspannung, die Einordnung in den gegebenen Lebensaugenblick erleben - man muss einfach nicht mehr „genialisch" aus der Masse der Menschen zur Befriedigung seiner kleinen, individuellen Eitelkeit hervortreten wollen - man muss nicht führen wollen. Das Hervortretenwollen (und das Hervorbringenwollen) lenkt vom Leben ab, macht aus der Wahrheit des Ins-Leben-Eingeordnetseins erst irregehende und dann gefährliche Betrüger. Der historische Augenblick verlangt seine Wahrheit: sich über das Mechanische des Lebens, soweit es das Persönlich-Schöpferische (Glück) und das Allgemeine (Sitte, Politik) betrifft, klar zu werden und in keinem Falle Dogmen und Doktrinen für zwingender als die zu suchenden Uebereinstimmungen mit dem Leben, das sich wandelt, zu halten und zu erklären. Zwar lehrt uns die Psychomechanik, dass wir nicht „frei" d.h. von Widersprüchen und Fehlern sind, dass wir aber sehr wohl uns von einer zu erstrebenden „Rechtsnorm" für alle Menschen überzeugen können und dass wir in jedem Augenblick für das Ideal der „Befreiung" von der „Oberfläche" eintreten müssen, so, wie man gegen die Krankheit, die Selbstvergiftung kämpft. Die gedankenloseste Selbstvergiftung heisst: Kapitalisierung, Abhängigkeit von etwas, das nicht einmal exaktes Wirtschaftsmittel ist. Der Angelpunkt der „Weltrevolution" ist im Subjektiv-Psychologischen der Conflikt Eigen-Fremd, im Objektiv-Oekonomischen das Problem jus in re, jus ad rem (Eigentum-Besitz). Das Subjektive und das Objektive des menschlichen Lebens ist vergleichbar dem kurzen und dem langen Arm eines Hebels: sie haben beide einen gemeinsamen Balancierpunkt und sind sich als Kräfte, als Abstrakta gleich, von einander abhängig, aber in der Form von verschiedener Bedeutung. Es sei gesagt: das Metaphysische der Existenz irgend einer Form Leben überhaupt ist stillschweigende Voraussetzung, trotzdem ist die Materie wichtiger als der Geist. (In der Welt, als überra¬gender Materie, unterliegt der Mensch auch heute noch zuerst dem horror vacui). Es ist kein Einwand gegen die Bedeutung der Materie, dass der Mensch noch nicht einmal den Umfang seines Geistigen ganz kennt - er kennt die Materie noch weniger. Und er wird zuhinterst erkennen müssen, dass die Materie Geist ist, dass beides das Gleiche ist. In der Societät des Menschen aber ist die Materie historisch bestimmend für den Geist und das Recht.«