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Brief von Raoul Hausmann an Grete Höch
  • © Unterliegt nicht dem Urheberrechtsschutz
  • Repro: Anja Elisabeth Witte
    • Raoul Hausmann (1886 - 1971)

  • TitelBrief von Raoul Hausmann an Grete Höch
  • Datierung28.2.1917
  • GattungBrief
  • SystematikKorrespondenz
  • MaterialPapier, handgeschrieben mit Tinte
  • Masse21 x 16,3 cm (Blattmaß)
  • Umfang3 Blatt (6 Seiten)
  • KonvolutNachlass Hannah Höch
  • InventarnummerBG-Ar 14/98,6
  • CreditlineSchenkung aus Privatbesitz, 1998
  • BezügeBrief, Korrespondenz
  • AusgestelltNein
Transkription / Beschreibung
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"28. Februar 17
Liebe, diese Stelle kenne ich, sie war zuerst noch etwas anders. Du darfst das nicht unbedingt nehmen - denn wenn Hannah böse ist, hält sie sich (moralisch) fürr besser, als ich bin. Moral aber gibt‘s nicht. (N.B. ist das jetzt nicht von mir gegen Hannah gesagt, sondern Antwort auf Deinen Brief, soweit er sich mit solchen Dingen berührt.) Was den “Einzigen“ anlangt, so sagt z.B. Peter Altenberg: Der 'Einzige' sein, ist wertlos.... Der “Erste“ sein ist alles! Denn er hat eine Mission, er ist ein Führer, er weiss, die ganze Menschheit kommt hinter ihm, er ist nur von Gott vorausgeschickt! -
(Übrigens, noch Peter Altenberg:
Melancholie ist, den Abstand seines Seins von seinen eigenen möglichen erreichbaren Idealen spüren! Wehe dem, der diese Melancholien nicht hätte! Vorzeitig seine Ruhe, seinen Frieden finden, heisst die Sedan-Kapitulation seiner selbst unterzeichnen! Melancholie ist die Stimme Gottes in uns, die uns unentwegt an unsere Pflicht ruft, Gott - ähnlich zu werden! Diese dunkle, unentwegte Stimme, die tönt und nicht zur Ruhe kommen lässt! Wehe denen, die beruhigt dahinleben. Nur auf erreichten Gipfeln ist endgültige Ruhe!)
Dass Du jetzt durch Deine Melancholie musst, durch Deine Einsamkeit, das ist gut und nötig - aber niemals sollst Du die Wege gehen müssen, oder zu müssen glauben, die Hannah geht! Denn sie hatte die Isoliertheit zum Lebensziel gemacht! Das sollst Du nicht! -
Da Du Strindbergs Traumspiel gesehen hast, möchte ich Dir aus seinem 'Vater' das mitteilen:
Laura: Aber eine Frau?
Rittmeister: Ja, denn sie hat ihre Kinder, die hat er aber nicht. - Aber wir und die andern Menschen lebten unser Leben dahin, unbewusst wie Kinder, voll von Einbildungen, Idealen und Illusionen, und dann erwachten wir! Das möchte noch hingehen, aber wir erwachten mit den Füssen auf dem Kopfende, und der uns weckte, war selbst ein Schlafwandler, Wenn Frauen alt werden und afgehört haben, Frauen zu sein, bekommen sie auf dem Kinn einen Bart; ich möchte wissen, was Männer bekommen, wenn sie aufgehört haben, Männer zu sein? Die den Hahnenschrei von sich gaben, waren keine Hähne mehr, sondern Kapaune und die Poularden antworteten auf den Lockruf! So fanden wir uns, als die Sonne aufgehen sollte, in vollem Mondschein zwischen Ruinen sitzen, ganz wie in der guten alten Zeit. Es war nur ein kleines Morgenschläfchen mit wilden Träumen gewesen, und es war kein Erwachen! - Dostoiewski in Brüder Karamasoff: (Das Paradies, Himmel auf Erden.) Es w̲i̲r̲d̲ sein, aber zuerst muss die Periode der menschlichen Absonderung und Isolierung überwunden werden es ist ... statt Fülle des Lebens .. vollständiger Selbstmord, statt Selbstbestimmung vollständige Isolierung. Der Menschengeist will heutzutage allgemein nicht einsehen, dass die wahre Sicherheit des Individuums nicht in seiner pesönlichen isolierten Kraft besteht, sondern im Zusammenhang mit der Gesamtheit d̲e̲r̲ Menschen. -
Sankt Augustinus sagt: Derer sind viele, die Licht und Wahrheit gesucht haben, aber gänzlich draussen (d.h. isoliert, in der 'Welt'.) wo sie nicht war. Da kommen sie denn schliesslich so weit von Hause (der Seele) weg, dass sie garnicht wieder heim und herein finden. Und die Wahrheit haben sie dabei doch nicht gefunden, denn sie ist inwendig, in dem Grunde, nicht draussen! Wer nun Erleuchtung und Einsicht in alle Wahrheit finden will, der warte und achte auf diese ̲G̲e̲b̲u̲r̲t̲ ̲ in ihm, in dem Grunde, so werden auch alle seine Kräfte erleuchtet werden und auch sein äusserer Mensch. -
Diesem Erwachen und dieser Geburt will ich dienen! Aber das ist bei uns in Deutschland schwerer als so anders: die jungen Menschen, die ich kenne (und leider auch Hannah, aber sie durch lange Isolierung) möchten aus der Sitte, der Convention heraus, sie haben sehr darunter zu leiden, kämpfen damit - aber wieder conventionell, sittlich! Nicht rein menschlich! Erkennen nicht die Natur der Dinge*, sondern den Zwang der Dinge, nicht ihr inneres Gesetz, sondern äusseres! - Ich sende Dir nächstens 'Der Mensch ergreift Besitz von sich' in der endgültigen Fassung und 'Revolution der Ethik', das richtet sich gegen den kategorischen Impferativ und das kantische Sittengesetz; Sitte ist was Abgeleitetes, Geschwächtes, durch 'Erkenntnis' vorzeitig Bestimmtes!
*'Das Göttlich-Allgemeine, als das Ungemeine' - und von hier aus den Grund der Gemeinsamkeit der 'Einzelnen'!"